Jetzt spricht Charlotte R.
NACH DEM FREISPRUCH IM MÜNCHHAUSEN-PROZESS
Zwei Jahre lang wurde Charlotte R. beschuldigt, ihrem damals zwei Monate alten Baby zahlreiche Knochen gebrochen zu haben. Sie wurde beleidigt, bedroht – und war doch am Ende unschuldig. Der Prozess hat Spuren bei ihr hinterlassen. Exklusiv erzählen sie und ihr Ehemann dem Deldorado, was während des Prozesses und in den Wochen danach in ihnen vorgegangen ist.
„Wer hätte gedacht, dass wir mal in so eine Situation kommen“, beginnt Charlotte R. das Interview mit Tränen in den Augen. Man kann nur erahnen, wie sehr die letzten beiden Jahre sie mitgenommen haben müssen. Vor zwei Jahren fuhr Charlotte R. mit ihrem Baby ins Krankenhaus, wo festgestellt wurde, dass es zahlreiche Knochenbrüche erlitten hatte. Schnell wurde Charlotte R. von einem dortigen Kinderarzt die fatale Diagnose „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“ gestellt – eine psychische Störung, bei der die Betroffenen andere verletzen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Oft handelt es sich dabei um Mütter, die ihre eigenen Kinder verletzen. Für Charlotte R. ein Schock: Binnen 48 Stunden wurde ihr der kleine Jonas weggenommen und man beschuldigte sie der schweren Kindesmisshandlung. Seitdem lebt Jonas in einer Pflegefamilie.
Harte Folgen einer nicht begangenen Straftat
Das rund zweijährige Warten auf den Gerichtstermin war lang und nervenaufreibend. Denn Jonas ist die wichtigen ersten zwei Jahre seines Lebens nun nicht bei seiner Mutter, sondern bei Pflegeeltern aufgewachsen. Weitere bittere Konsequenz für Charlotte R.: Vorverurteilungen, Beleidigungen und Bedrohungen. „Ich habe Drohungen bekommen, so was wie ‚Man sollte dir alle Knochen brechen‘, auch das Wort Zwangssterilisation ist gefallen“, berichtet die junge Mutter. Auf Facebook habe ein regelrechter Shitstorm gegen sie gewütet. Und zu allem Überfluss lässt ihr Arbeitgeber aus der Gastronomie sie bis heute nicht mehr arbeiten. Charlotte R. hat sich daraufhin in ihr Schneckenhaus zurückgezogen: „Ich bin nach dem ersten Gerichtstermin nicht mehr einkaufen oder ausgegangen. Auch nach dem Prozess habe ich mich nur mit Mütze zu Kaufland getraut“, erzählt sie.
Die Hochzeit – ein echter Liebesbeweis
Immerhin: „Die engsten Freunde haben immer zu uns gehalten“, freut sich ihr Ehemann Benjamin R. Auch er selbst hat nie an der Unschuld seiner Frau gezweifelt: „Ich habe nicht eine Sekunde gezögert. Wir haben sogar während des Verfahrens geheiratet.“ Auf die Frage, warum er sich stets so sicher sein konnte, sagt er nur: „Es war ein Gefühl, eine Art innere Sicherheit.“ Bei der Hochzeit seien die beiden aber doch sehr schwermütig gewesen. Ihr Sohn habe nur kurz dabei sein können und sei dann von der Pflegemutter wieder abgeholt worden. „Nach dem Essen habe ich nur noch geweint“, erinnert sich Charlotte R. Geheiratet wurde nur standesamtlich im kleinen Kreis. „Wir wollen aber noch kirchlich heiraten“, verrät Benjamin R.
Keine Normalität ohne Jonas
Den Freispruch vor ein paar Wochen mussten die jungen Eltern erst einmal auf sich wirken lassen: „Bis man es realisiert hatte, hat es ein paar Tage gedauert“, schildert Benjamin R. die Zeit nach dem Urteil. „Wir haben lange darauf gewartet und dann kam es so plötzlich“, ergänzt Charlotte R. Jetzt könnte man denken, nun wäre der perfekte Zeitpunkt für die kirchliche Trauung – aber die Realität sieht anders aus: „Wir haben zwar den Freispruch, aber letzten Endes ist unser Kind immer noch nicht zu Hause“, bedauert Charlotte R. „Solange unser Kleiner nicht wieder da ist, kehrt keine Normalität ein. Ich will eigentlich ein ganz normales Leben führen und meine Ruhe haben.“ Derzeit wird der Fall familienrechtlich geklärt. „Sie haben die berechtigte Hoffnung, ihr Kind wiederzubekommen“, erklärt Dr. Corina Seiter, die Rechtsanwältin von Charlotte R.
Täter noch immer auf freiem Fuß
Und auch ein weiterer Punkt ist noch offen: Der Täter ist noch immer auf freiem Fuß. Als wir Benjamin R. fragen, wie er sich bei diesem Gedanken fühlt, dreht er den Spieß um: „Wie würden sie sich denn fühlen?“, fragt er aufgebracht. „Da ist Wut, da ist Verzweiflung. Wir müssen uns zusammenreißen, aber wir bleiben vernünftig“, sagt Charlotte R. – und man merkt, wie sie mit der Fassung ringt. Der Kreis der möglichen Täter beschränkt sich auf wenige Personen, das Ehepaar hat jedoch einen klaren Verdacht. „Ich bin enttäuscht von mir, dass ich jemandem so vertrauen konnte“, sagt Charlotte R. Von Anfang an sei nur sehr einseitig ermittelt worden, kritisiert Rechtsanwältin Dr. Corina Seiter. Nachdem der Kinderarzt die Diagnose „Münchhausen-by-proxy-Syndrom“ gestellt hatte, sei nur die Kindesmutter im Fokus der Ermittlungen gewesen. „Mit der gleichen Intensität, wie gegen die Mutter ermittelt wurde, hätte auch gegen mögliche andere Täter ermittelt werden müssen“, sagt die Rechtsanwältin. Da dann auch noch Ermittlungen gegen einen potenziellen Täter im Laufe des Prozesses gegen Charlotte R. eingestellt wurden, könne jetzt nicht mehr viel getan werden. „Nur wenn es neue Beweise gibt, wird das Verfahren wieder aufgerollt, es hätte niemals vor Ende des Prozesses eingestellt werden dürfen“, ärgert sich Dr. Seiter.
Trauriges Signal an Delmenhorster Eltern
Laut der Psychotherapeutin von Charlotte R., Dr. Britta Burke, hat der Fall jedoch nicht nur schlimme Konsequenzen für Charlotte und Benjamin R., sondern sende auch ein falsches Signal an alle Eltern, die in Delmenhorst leben: „Dieser Fall fördert die Ängste von jungen Müttern, mit ihren Kindern ins Krankenhaus zu gehen“, sagt Dr. Burke. Für sie steht fest: „Es wäre wünschenswert, wenn Kinderärzte in ihrem Kompetenzbereich bleiben und keine psychischen Erkrankungen bei Erwachsenen diagnostizieren würden.“