Pfleger-Prozess: Nebenkläger erhebt Vorwürfe
Vor dem Landgericht Oldenburg läuft gerade der Prozess gegen Krankenpfleger Niels H., der im Klinikum Delmenhorst zwischen 2003 und 2005 womöglich zahlreiche Menschen getötet hat. Aus Langeweile und Freude am Wiederbeleben soll er ohne Erlaubnis Patienten das Herzmedikament Gilurytmal gespritzt haben. Vor Gericht verhandelt werden fünf Fälle: Dreimal heimtückischer Mord und zweimal versuchter Mord, lauten die Vorwürfe. Die Dunkelziffer könnte jedoch bei mehr als 100 Fällen liegen. Gegenüber dem Deldorado erheben Nebenkläger Christian Marbach, der 2003 seinen Großvater durch eine der Taten verloren hat, sowie Rechtsanwältin Gaby Lübben, als Vertreterin der Nebenklage, schwere Vorwürfe.
Herr Marbach, womöglich durch den Größenwahn eines derzeit vor Gericht stehenden Krankenpflegers haben Sie 2003 ihren Großvater verloren. Wie schafft man es, so etwas emotional zu verarbeiten?
Marbach: Ich trenne die Trauer über den persönlichen Verlust für unsere Familie von der Verantwortung für die Taten durch den Täter und die für ihn verantwortlichen Führungskräfte und Kollegen der Kliniken.
Staut sich da nicht unglaublich viel Wut auf?
Marbach: Ja. Die Morde sind allein schon widerlich. Es wurden ja nicht Sterbende erlöst, sondern willkürlich gemordet. Aber das systematische Versagen und Weggucken der Verantwortlichen über Jahre hinweg haben daraus erst eine derartige Serie von Morden ermöglicht.
Was meinen Sie damit?
Marbach: Vor Gericht kommt immer mehr ans Licht, dass das Klinikum Delmenhorst über Jahre hinweg nichts getan hat, um Ungereimtheiten aufzuklären und Sicherheitslücken zu schließen. Manche Pfleger haben Niels H. nicht an ihre Patienten herangelassen, weil sie wussten: Mit dem stimmt etwas nicht. Bei uns als Nebenkläger haben sich schon mehrere Menschen aus dem Umfeld des Klinikums gemeldet, die ebenfalls schwere Vorwürfe erheben. Zudem reden sich einige Klinikmitarbeiter vor Gericht um Kopf und Kragen.
Wie das?
Marbach: Sie berichten zum Beispiel davon, dass manche Pfleger den Patienten regelmäßig Schlafmittel gespritzt haben, um während ihres Dienstes Ruhe zu haben. Und das ist nur ein Beispiel von vielen, was dort völlig unsanktioniert schiefgelaufen ist.
Wie genau haben Sie eigentlich davon erfahren, dass Ihr Großvater ein Opfer von Pfleger Niels H. geworden sein könnte?
Marbach: Mit der Anklage 2014. Bei der Exhumierung wurde das Mittel nachgewiesen, dass mein Opa offiziell nie verabreicht bekam.
Inwieweit nimmt in Ihren Augen das Klinikum Delmenhorst seine Verantwortung bei der Aufarbeitung der Geschehnisse wahr?
Marbach: In meinen Augen überhaupt nicht. Ein Klinikmord ist vergleichbar mit dem Absturz einer Maschine für eine Fluggesellschaft. Entscheidend ist, wie man anschließend damit umgeht, um geschehene Fehler abzustellen. Verantwortung für die bisherigen beiden Todesfälle, die die Nebenklage tangieren, will das Klinikum jedenfalls nicht übernehmen.
Da das Klinikum mit städtischen Geldern vor der Insolvenz gerettet wurde und zudem die Fusion mit dem St.-Josef-Stift vorbereitet wird, hat auch der Stadtrat ein Auge aufs Klinikum. Was ist ihr Eindruck? Welchen Eindruck hat die Lokalpolitik?
Marbach: Das ist ja das Schlimme: Die Politik scheint nicht zu ahnen, was auf sie zukommen könnte. Ich habe Kontakte zu den Ratspolitikern in Delmenhorst. Wenn ich in die Fraktionen reinhöre, ist mein Eindruck: Die sind nicht ansatzweise adäquat informiert.
Woran machen Sie das fest?
Marbach: Auf das Klinikum könnten zivilrechtliche Schadenersatzforderungen im zweistelligen Millionenbereich zukommen. Zudem wächst täglich das Medieninteresse. Längst sind nicht nur lokale Medien beim Prozess vertreten, sondern auch bundesweit tätige, wie etwa der Stern.
Mangelnde Kontrolle scheint ein Schlüsselelement für die Ermöglichung der Taten gewesen zu sein. Bei der Medikamentenbestellung soll zeitweise nicht nachvollziehbar gewesen sein, wer überhaupt Medikamente bestellen durfte und welche Mengen geordert wurden. Als betroffener Angehöriger: Wie bewerten Sie das?
Marbach: Es geht hier um die Frage, warum ein Täter eine derartige Serie von Morden über zweieinhalb Jahre hinweg begehen konnte, ohne dass die Verantwortlichen trotz zahlreicher Hinweise eingeschritten sind. Man hat es ihm leicht gemacht und wissentlich weggesehen. Die gerichtlichen Aussagen der Klinikmitarbeiter deuten auf extreme organisatorische Mängel, sowie auf weitere Vergehen anderer Mitarbeiter hin, die zahlreichen Vorgaben zum Betrieb einer Klinik widersprechen. Hinzu kommen mehrere Hinweise darauf, dass Zeugen lügen und sich dadurch selbst belasten.
Frau Lübben, sie vertreten die Angehörigen von zwei der höchstwahrscheinlich ermordeten Patienten. Obwohl es etliche weitere Verdachtsfälle gibt, hat die Staatsanwaltschaft weitere Exhumierungen – auch aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen – abgelehnt. Möglicherweise hat der Angeklagte jedoch mehr als hundert Menschen auf dem Gewissen. Droht die Geschichte der größte Krankenhausskandal der deutschen Geschichte zu werden?
Lübben: Bei einer nahezu Verdopplung der Todesfälle während der Dienstzeit von Niels H. würde ich die Frage bejahen.
Die Todesfälle im Bereich der Intensivstation im Klinikum haben sich während der Dienstzeit von Niels H. in der Tat in etwa verdoppelt. Nach seinem Ausscheiden gingen sie wieder zurück. Frau Lübben, wie erklären Sie sich, dass das nicht früher untersucht wurde?
Lübben: In den Kliniken haben die Verantwortlichen weggesehen und vertuscht. Ich glaube, dass die Staatsanwaltschaft trotz entsprechender Hinweise unter anderem auch der neuen und dritten Nebenklägerin im Jahr 2005 das Ausmaß nicht wahrhaben wollte.
Die strafrechtliche Verantwortung ist das eine. Streben Sie als Vertreterin von Hinterbliebenen nach dem Prozess auch einen zivilrechtlichen Prozess an, um Schadenersatzforderungen geltend zu machen?
Lübben: Ziel ist es, mit den Kliniken Delmenhorst und Oldenburg eine einvernehmliche Lösung zu finden. Sollte dies nicht möglich sein, werde ich meinen Mandanten unter anderem weitere rechtliche Schritte empfehlen.
Ist es richtig, dass der Prozess auf Initiative einer einzigen Nebenklägerin begonnen wurde?
Marbach: Ja. Seit Prozessbeginn sind bereits zwei weitere Nebenkläger dazu gekommen und eine weitere Nebenklägerin wird ebenfalls in Kürze einsteigen, sodass wir inzwischen schon vier sind. In diesem Strafprozess geht es um fünf Opfer. Wir sind jedoch bereits mit weiteren Angehörigen im Gespräch, die sich bei uns gemeldet haben und zu den 200 ungeklärten Todesfällen gehören, die nicht in diesem Prozess verhandelt werden.
Dieser Fall ist also womöglich noch lange nicht beendet?
Lübben: Ich gehe davon aus, dass sich weitere Angehörige melden um eine Strafanzeige zu erstatten. Das ganze Ausmaß des Handelns des Niels H. kann nur durch vollständige Aufklärung erfasst und verarbeitet werden. Das kann nicht dadurch erreicht werden, dass von über 200 Mehrtoten nur acht exhumiert werden. Wir werden die Staatsanwaltschaft zu umfangreichen Ermittlungen gegen die Täter und die Verantwortlichen zwingen.