Das Jobcenter-Dilemma
WARUM KUNDEN UND MITARBEITER NUR SELTEN FREUNDE WERDEN
Der kaltblütige Mord an einer Jobcentermitarbeiterin in Neuss schockte im September ganz Deutschland. Kaum eine Behörde bietet so viel Konfliktpotenzial wie das Jobcenter. Wie kommt es, dass Mitarbeiter und Kunden hier scheinbar nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen?
Der ehemalige Geschäftsführer des Delmenhorster Jobcenters, Siegfried Dreckmann, gab vor einigen Monaten im Interview zu, dass der Job im Jobcenter einem sehr viel abverlange und man auch mal Fehler mache. Die Arbeit sei emotional sehr hart und erfordere neben einem freundlichen Auftreten auch ein forderndes. Doch welche Ängste und Erfahrungen prallen in der Behörde fast täglich aufeinander und schüren zum Teil solch eine Wut, die letztendlich eskaliert und zu Taten wie in Neuss führt?
Die harte Hand: Angst vor Sanktionen
Laut eines Positionspapiers der Diakonie wurden 2011 bundesweit fast 900.000 Sanktionen gegen leistungsberechtigte Erwerbslose ausgesprochen. Die Gründe sind vielfältig, sie reichen von der Verweigerung der Pflichten der Eingliederungsvereinbarung über Meldeversäumnisse bis hin zu unwirtschaftlichem Verhalten. Ein Diakonieberater berichtet im Positionspapier aus der Praxis: „Leistungsbeziehende verstehen häufig nicht die Kultur der Behörde wie zum Beispiel Sprache, Bescheide, indifferentes Verhalten der Leistungssachbearbeiter. Dadurch ergeben sich Probleme.“ Bei Kunden entstünde häufig das Gefühl von Willkür und Schikane. Nicht selten bedrohen die Kürzungen der Bezüge die Existenz und hier beginnt die Gefahr, wie es Erich Rettinghaus, Vorsitzender der nordrheinwestfälischen Polizeigewerkschaft, nach der Bluttat in Neuss auf den Punkt brachte: „Wenn es um die Existenz geht, dann sind Kurzschlusshandlung aus Wut und Verzweiflung alles andere als unvorhersehbar.“
Von mangelndem Respekt zur fehlenden Motivation
„Anders als bei anderen Behörden haben die Kunden keinen Respekt vor dem Jobcenter“, berichtete ein ehemaliger Jobcenter-Mitarbeiter kürzlich dem Focus. Er habe sich zwei Jahre lang anschreien und bedrohen lassen und hilflos beim Sozialbetrug zusehen müssen, dann habe er genug gehabt. Stellenangebote seien für viele Kunden kein Gefallen, sondern Stress. In seinen zwei Jahren als Arbeitsvermittler habe er gerade einmal zwei Menschen in ein geregeltes Arbeitsverhältnis vermittelt. „Wer arbeite schon gerne 160 Stunden für 1.000 Euro, die er vom Staat auch fürs ‚Nichtstun‘ bekommt?“ Die wenigsten Mitarbeiter seien noch motiviert, den Menschen zu helfen.
Studie zeigt Missstände auf
Jeder Mensch hat einen verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Die Diakonie hat in ihrer Studie „Diakonie Texte 05.2012“ geprüft, ob diese Gewährleistung in der Praxis auch umgesetzt wird mit dem Ergebnis, dass die Ermittlung des Regelsatzes weder ausreichend transparent, noch sach- und realitätsgerecht erfolgt. Beratende seien in den Jobcentern kaum erreichbar, die Bescheide über die Leistung unverständlich. Sanktionen erfolgten häufig pauschal, junge Erwachsene unter 25 Jahren würden gegängelt und aus dem Leistungsbezug gedrängt. Das Bildungs- und Teilhabepaket erreiche die Leistungsberechtigten oft nicht und bezahlbarer Wohnraum stehe nicht ausreichend zur Verfügung.
Vorurteile schüren das Dilemma
Solange diese Missstände bestehen, wundert es also kaum, dass sich manche Kunden ungerecht behandelt fühlen und Frust entsteht. Auch unsere Redaktion kennt etliche Fälle. Immer wieder wenden sich verzweifelte Leser an Zeitungen in der Hoffnung, dass sie vermitteln können. In Delmenhorst betreuen rund 125 Mitarbeiter circa 11.000 Kunden. An vielen Orten ist das Verhältnis noch ungünstiger. Dass die Mitarbeiter bei der hohen Anzahl ihrer Fälle nicht auf jeden individuell eingehen können, muss verstanden werden genauso wie die Tatsache, dass viele durch den erfahrenen Mangel an Respekt die Motivation verlieren. Marion Denkmann, stellvertretende Geschäftsführerin des Delmenhorster Jobcenters, sagt jedoch: „Mit vielen Kunden herrscht ein gutes Miteinander, sie erfüllen ihre Auflagen und sind engagiert.“ Natürlich gebe es Ausnahmen. „Gefühltes Recht ist nicht immer das Recht, dass unsere Mitarbeiter ausführen müssen. Unsere Mitarbeiter sind aber kein Freiwild, das man bedrohen darf, nur wenn man sich einmal ungerecht behandelt fühlt.“ Dennoch könne sie auch verstehen, dass manche Kunden mit Wut reagieren, wenn die Zahlungen einmal ins Stocken geraten, denn bei vielen hänge hiervon ihre Existenz ab.
Das Jobcenter-Dilemma ist geprägt von Vorurteilen. Auf der einen Seite sitzen dabei die Mitarbeiter am längeren Hebel, welche die Erwerbslosen vermeintlich mit Sanktionen schikanieren und auf der anderen Seite die Erwerbslosen, die angeblich den Staat ausnehmen wollen und null Bock auf Arbeit haben. Selbstverständlich existieren einzelne Fälle, aus denen die gängigen Vorurteile entstehen. Doch in jedem Jobcenter gibt es auch motivierte Mitarbeiter, denen das Wohl ihrer Kunden am Herzen liegt und Kunden, die es kaum erwarten können, endlich wieder zu arbeiten.